Aufsätze von Andreas Popp
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Artikel aus der ZEIT vom 05.09.2009: Autor Wolfgang Uchatius
Warum wir Wachstum brauchen.
Wir könnten auch anders, warum brauchen wir Wirtschaftswachstum?
Weil sonst Firmen sterben?
Weil dann Menschen arbeitslos werden, arm und unglücklich?
Ist das wahr?
Eine Alternative muss her. Dass die Adam Opel GmbH einer der großen Verlierer der Wirtschaftskrise ist, weiß man inzwischen, aber wer ist der Gewinner?
Dass es den Unternehmen schadet, wenn Autos ungekauft auf Parkplätzen stehen, Fließbänder nicht mehr fließen und auf Schifffahrtsstraßen nur hin und wieder ein paar Fische vorbeiziehen, hat man mittlerweile begriffen, aber wem nützt es?
Oder gibt es in dieser großen, die ganze Welt umfassenden Krise gar keinen Gewinner?
Doch, es gibt ihn. Man findet ihn allerdings nicht in den Werkshallen von Opel, auch nicht in den Chefetagen der Frankfurter Bankentürme. Man muss etwas weiter hinaufsteigen, auf die Zugspitze zum Beispiel. Dort oben, knapp unterhalb des Gipfels, in 2650 Meter Höhe, wo der Blick im Sommer wie im Winter auf den Schnee des Gletschers fällt, beschäftigt sich ein Mitarbeiter des Umweltbundesamtes mit der Luft. Er untersucht sie, wertet sie aus, so wie ein Frankfurter Finanzanalyst die Unternehmensdaten von Opel auswertet und sie in ermutigende und beunruhigende Bestandteile zerlegt. Der beunruhigende Bestandteil der Luft ist das Kohlenstoffdioxid, kurz CO2, das wichtigste sogenannte Treibhausgas. Es entsteht vor allem durch die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle. Je mehr CO2 in der Luft ist, desto wärmer wird die Erde. Alle fünf Minuten misst das Umweltbundesamt auf der Zugspitze den CO2-Anteil der Luft. Er steigt immer weiter, in den Alpen, in der algerischen Sahara, auf dem Mount Wiguan in China oder an den weltweit zwanzig weiteren Messpunkten des Global Atmosphere Watch Program der Vereinten Nationen. Grafisch dargestellt, zeigt die Entwicklung der weltweiten CO2-Emissionen während der vergangenen sechzig Jahre eine Linie, die von links unten nach rechts oben führt. Die Linie sieht aus wie die Umsatzkurve eines erfolgreichen Autoherstellers. Sie hat auch viel damit zu tun. In den vergangenen sechzig Jahren ist die Weltwirtschaft stärker gewachsen als vom Beginn der Zeitrechnung an bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Umsatzkurve eines Automobilunternehmens steigt nie kontinuierlich. Es gibt Jahre, in denen die Leute wenige Autos kaufen. Auch die weltweite CO2-Kurve knickt hin und wieder ein. Mitte der Siebziger war das so, oder auch Anfang der Achtziger und der Neunziger. Es waren die Jahre, in denen es der Weltwirtschaft schlecht ging und weniger Autos gebaut wurden. In diesem Jahr wird Opel besonders wenig Autos bauen. Die kommenden Monate werden furchtbar für Unternehmen überall auf der Welt werden. Das Ökosystem der Erde aber wird sich ein klein wenig erholen. Die Wirtschaft wird schrumpfen, und die Natur wird wachsen. Das ist die gute Nachricht der Weltrezession. Es ist eine Nachricht, über die man einen Moment lang nachdenken muss. Schon vor der Pleite der Lehman-Bank war auf der Welt viel von einer Krise die Rede, allerdings nicht von einer Krise der Wirtschaft, sondern von einer Krise des Grönlandeises. Es war die Rede von wachsenden Wüsten, gerodeten Regenwäldern und versalzenen Böden. Man konnte damals im Fernsehen sehen, wie ein Hurrikan die amerikanische Stadt New Orleans zerstörte und 1800 Menschen tötete, wie bei Überschwemmungen in Indien und Bangladesch 3000 Menschen starben. Man konnte auf Klimagipfeln besorgt dreinschauende Regierungschefs sehen, die sagten, es sei höchste Zeit zum Handeln. Sie sprachen von Solaranlagen und Windkraftwerken und fügten an, man dürfe nicht Ökonomie und Ökologie gegeneinander ausspielen. Die Ökonomie wurde nicht ausgespielt. Im Gegenteil. Sie wuchs weiter. Allein seit dem Jahr 2000 stiegen die weltweiten CO2-Emissionen um zwanzig Prozent, stärker als in den achtziger und neunziger Jahren. Was alle Sonnenkraftwerke der Welt bisher nicht geschafft haben, erledigt nun die Rezession: Die CO2-Emissionen sinken. Offenbar gibt es keinen besseren Klimaschutz als ausbleibendes Wirtschaftswachstum. Weshalb sich die Frage stellt, ob man auch ohne Wachstum auskommen könnte. Eine seltsame Frage in einer Zeit, in der die ganze Welt auf steigende Umsätze hofft. Aber vielleicht könnte die Wirtschaft als Ganzes auch ähnlich funktionieren wie der Mensch. Ein Mensch benötigt zum Leben etwa 2500 Kilokalorien, ein paar Liter Wasser und etwas Sauerstoff. Er benötigt das jeden Tag, in jedem Jahr. Er braucht nicht morgen mehr als heute und übermorgen noch mehr. Warum muss das anders sein, wenn es um Unternehmen und Konzerne geht? Warum muss Opel immer mehr Autos verkaufen? Warum brauchen wir immer mehr Besitz, mehr Gewinn? Warum brauchen wir unbedingt Wirtschaftswachstum? Diese Frage ist fast so alt wie die Erklärung der Schwerkraft durch Isaac Newton. Entsprechend oft wurde sie beantwortet. Man muss nur in die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung einer größeren Bibliothek gehen. Da steht die Antwort in ökonomischen Lehrbüchern, manchmal versteckt in geometrischen Figuren und mathematischen Formeln, manchmal in etwas umständlichen Sätzen wie diesem: »Der individuelle Nutzen der Wirtschaftssubjekte steigt, wenn mehr Güter und Dienstleistungen gekauft werden.« Die Wirtschaftssubjekte, das sind die Menschen. Übersetzt heißt das also: Der Mensch braucht Wachstum, weil es ihn glücklich macht. Er mag jeden Tag dieselbe Menge an Kalorien benötigen, aber er will nicht jeden Tag zu Fuß gehen. Er will ein Auto haben. Weil sich aber die Menschen in China, Vietnam oder Bangladesch nur dann irgendwann werden Autos kaufen können, wenn sie immer mehr T-Shirts, Spielzeugautos oder Computermonitore produzieren und verkaufen, brauchen sie Wachstum. Dieser Antwort lässt sich wenig entgegensetzen. Trotzdem geht sie an der Frage vorbei. Die Hauptverursacher des Klimawandels sind ja nicht chinesische Fließbandarbeiter oder vietnamesische Näherinnen. Es sind Länder wie Deutschland, Amerika, Großbritannien, Frankreich. Länder, in denen es keineswegs an Autos mangelt. Genauso wenig wie an anderen Errungenschaften der Moderne. Es sind Länder, in denen Menschen wie die Meyers wohnen. Heike Meyer ist 35 Jahre alt, ihr Mann Martin ist zwei Jahre älter, sie sind verheiratet und haben einen Sohn, den sechsjährigen Max. Die Meyers leben in einem Vorortreihenhaus auf 130 Quadratmetern, sie besitzen unter anderem: ein Auto, einen Fernseher, einen DVD-Spieler, einen digitalen Fotoapparat, einen PC, eine Geschirrspülmaschine und eine Mikrowelle. Die Meyers sind ein Produkt des Statistischen Bundesamtes, zusammengesetzt aus Tausenden von Daten. Sie sind die typische deutsche Familie. Ihr Auto ist ein Mittelklassewagen, etwa von der Größe eines Opel Astra. Der Astra hat 100 PS, er beschleunigt in elf Sekunden von null auf hundert, schafft eine Höchstgeschwindigkeit von 190 Kilometern in der Stunde und verfügt über elektrische Fensterheber. Die Durchschnittsmeyers haben ein Haushaltseinkommen von 3250 Euro. Würde die deutsche Wirtschaft und mit ihr das Einkommen der Meyers künftig um jährlich zwei Prozent wachsen, dann würden die Meyers in zwanzig Jahren anderthalbmal so viel verdienen wie heute. Sie könnten sich dann zum Beispiel ein zweites Auto leisten oder ein größeres, oder eines, in dem sich die Fenster nicht auf Knopfdruck heben und senken lassen, sondern auf den Befehl »rauf!« oder »runter!«, falls das bis dahin jemand erfunden haben sollte. Man kann nun folgende Vermutung anstellen: Selbst wenn sich die Durchschnitts-Meyers all diese Dinge kaufen könnten, wären sie nicht zufriedener als zuvor. Diese Vermutung ist aus Dutzenden von Studien der sogenannten Glücksforschung so gut abgesichert, dass sie schon eine Gewissheit ist. In diesen Untersuchungen haben Wissenschaftler die Zufriedenheit von Menschen gemessen und sie in Bezug zum Wirtschaftswachstum gesetzt. Sie kamen zum Ergebnis: Wachstum macht tatsächlich glücklich, aber nur, wenn man sehr wenig besitzt, wenn es um die ersten großen Sprünge geht. Auto statt Fahrrad, Wohnung statt WG-Zimmer, Waschmaschine statt Waschsalon. Ab einem gewissen Niveau hebt das Wirtschaftswachstum die Zufriedenheit nicht mehr. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland verdreifacht. Das heißt, verkürzt gesagt: Der durchschnittliche Deutsche kann sich heute dreimal so viel leisten wie damals. Die Lebenszufriedenheit aber ist unverändert geblieben. Genau wie in Frankreich, in Großbritannien, in Italien, genau wie in fast allen großen Industrieländern, mit Ausnahme der USA. Dort sind die Menschen heute sogar weniger glücklich als früher. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, von welchem Einkommensniveau an ein finanzieller Zuwachs nicht mehr mit einem Mehr an Zufriedenheit verbunden ist. Manche Studien versuchen einen bestimmten Geldbetrag zu ermitteln. Man erkennt den kritischen Punkt aber auch an anderen Dingen, zum Beispiel daran, dass die Geschichten aus der Kindheit ihren Schrecken verlieren. Die Eltern von Heike und Martin Meyer sind im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Wenn man davon ausgeht, dass sie für die damalige Bundesrepublik genauso typisch waren, wie es Heike und Martin Meyer für die heutige Gesellschaft sind, dann haben sie gefroren und gehungert und an guten Tagen nur Kartoffeln gegessen und vielleicht ein paar Pilze aus dem Wald. Als sie später, in den Siebzigern, nach vollbrachtem Wirtschaftswunder, ihren Kindern von dieser Zeit erzählten, wohnte den Schilderungen ein behagliches Gruseln inne und das Glück darüber, dass die Entbehrungen vorbei sind. Es war das Glück des Wirtschaftswachstums. Wenn heute ein junger Vater wie Martin Meyer seinem Sohn die eigene Kindheit beschreibt, dann handeln diese Geschichten von ersten Farbfernsehern und Urlauben am Mittelmeer. Auch damals hatten die Meyers schon ein Auto, vielleicht war es ein Opel Kadett. Ein Kadett hatte 55 PS, von null auf hundert brauchte er zwanzig Sekunden, die Höchstgeschwindigkeit lag bei 140 Kilometern in der Stunde. Die Fenster musste man mit der Hand rauf- und runterkurbeln, aber das hat damals niemanden gestört. Nach allem, was man über die Gefühlslage der Deutschen weiß, würde Martin Meyer sagen: »Wir waren zufrieden damals.« Es muss den Durchschnitts-Meyer also nicht schmerzen, wenn das Bruttoinlandsprodukt mal ein paar Jahre lang nicht wächst. Es tut ihm nicht weh, wenn Opel weniger Autos baut. Er könnte sogar ganz froh darüber sein: Je weniger CO2 in der Luft ist, desto besser für alle. Martin Meyer braucht kein Wirtschaftswachstum. Es sei denn, er arbeitet bei Opel. amit ist man bei der zweiten Antwort auf die Frage, warum wir Wachstum brauchen: Ohne Wachstum keine Arbeitsplätze. In fast jedem ökonomischen Lehrbuch findet man zu Beginn ein paar grundsätzliche Sätze zum Daseinszweck der freien Marktwirtschaft. Dort steht dann, erste Aufgabe des Marktes sei es, die Knappheit zu überwinden, das heißt die Menschen mit Konsumgütern zu versorgen. Gemeint sind Kühlschränke, Handys, Autos. All die Dinge, die in Deutschland, Frankreich oder Italien längst nicht mehr knapp sind. Woran es diesen Ländern fehlt, ist etwas anderes: Arbeit. Wann immer in den großen Industrienationen ein Regierungschef oder sein Herausforderer im Wahlkampf auftritt, stets gibt er ein Versprechen ab: »Ich werde dafür sorgen, dass neue Jobs entstehen«. Zur Bundestagswahl schrieb die SPD auf ihre Wahlplakate: »Es gibt viele schöne Plätze, die schönsten sind Arbeitsplätze«. Hochmütige Behauptungen sind das. Politiker schaffen keine Arbeitsplätze. Opel schafft Arbeitsplätze. Aber nur wenn die Wirtschaft wächst, braucht sie mehr Leute. Und wenn Opel weniger Autos verkauft, verliert Martin Meyer seinen Job. Aber wäre das wirklich so schlimm? Es ist in diesen Tagen viel von dem vor 60 Jahren verstorbenen britischen Ökonomen John Maynard Keynes die Rede, mit dessen alten Theorien sich die neue Krise gut erklären lässt. Keynes’ Gedanken gingen aber weit über die Frage, wie Rezessionen entstehen und wie man sie beenden kann, hinaus. Er war zum Beispiel der Überzeugung, dass eine hoch entwickelte Wirtschaft kein Wachstum mehr braucht. Keynes hielt dies für einen sehr erfreulichen Zustand. Die Schufterei wäre zu Ende, trotzdem müsste niemand hungern. Die Fabriken würden sich leeren. Manche Menschen würden gar nicht mehr arbeiten, andere nur noch ein paar Stunden. In der gewonnenen Zeit könnte Martin Meyer zum Beispiel die Fußballmannschaft seines Sohnes Max trainieren. Er könnte das Vereinsheim reparieren, er könnte einer Arbeit nachgehen, die ihm mehr Freude macht als der Job bei Opel, für die er früher aber keine Zeit hatte. Eigentlich nicht die Art von Leben, vor dem Martin Meyer Angst haben müsste. Furchterregend wird es erst dadurch, dass in Deutschland ein seltsames Verhältnis zur Lohnarbeit herrscht. Einerseits gibt es immer weniger davon – das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte reichte zwar aus, das Klima zu verändern, genügend Arbeitsplätze aber ließ es nicht entstehen. Andererseits waren noch nie so viele Menschen darauf aus, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Was auch damit zu tun hat, dass seit den Hartz-Reformen der deutsche Sozialstaat nach der alten Vorgabe aus dem Brief des Apostels Paulus an die Thessaloniker organisiert ist: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Jedenfalls nicht so viel. Wenn Martin Meyer seinen Arbeitsplatz bei Opel verlöre, würde er früher oder später unter Hartz IV fallen. Das würde seine Lebenszufriedenheit dann doch erheblich einschränken. Es gibt einen Begriff, den Soziologen wählen, wenn sie die Bundesrepublik Deutschland mit einem einzigen Wort charakterisieren wollen: Arbeitsgesellschaft. Sie meinen damit ein Land, in dem die Leute ihre Berufe in Todesanzeigen und auf Grabsteine schreiben und, sollten sie einander zu Lebzeiten kennenlernen, spätestens nach dem fünften Satz fragen: »Und was machen Sie beruflich?« In einem solchen Land gilt der Besitz eines Arbeitsplatzes als Maßstab für ein erfolgreiches Leben. Wobei es wichtig ist, dass es eine richtige, eine bezahlte Arbeit ist. Nicht Fußballtrainer einer Kindermannschaft. Oder Pfleger eines erkrankten Angehörigen. Oder gar Hausmann. Sondern zum Beispiel Fließbandarbeiter bei Opel. Martin Meyer und alle anderen, die bei Opel am Band arbeiten, würden deshalb wahrscheinlich darum beten, dass es den Ingenieuren der Entwicklungsabteilung gelingt, einen Fensterheber zu erfinden, der nicht nur auf Sprachsignale reagiert, sondern auch noch auf die Innenraumtemperatur oder auf unangenehmen Geruch. Und dass es die Marketingabteilung schafft, den Kunden diesen Unsinn auch noch anzudrehen. Hauptsache, Opel verkauft noch mehr Autos, Hauptsache, die Wirtschaft wächst. Hauptsache, er, Martin Meyer, hat weiterhin einen Job. Der Durchschnitts-Meyer arbeitet längst nicht mehr, damit es im Land mehr Autos gibt, es gibt schon genug. Er baut Autos, damit er Arbeit hat. Einst war der Kapitalismus ein großer Wohlstandserzeuger, heute ist er, zumindest in den Industrieländern, eine große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Wollte man künftig ohne Wachstum auskommen, müsste man die Bedeutung der Lohnarbeit mindern. Man müsste darüber nachdenken, die Arbeitszeiten neu zu organisieren, sodass nicht mehr der eine Arbeiter vierzig Stunden in der Woche arbeitet und der andere null, sondern zum Beispiel jeder zwanzig Stunden. In Deutschland war dieser Gedanke vor zwanzig Jahren ziemlich populär, heute gilt er als wachstumshemmendes Gewerkschaftergeschwafel. Man könnte auch den Sozialstaat verändern und ein garantiertes Grundeinkommen für alle einführen. Martin Meyer bekäme vom Staat jeden Monat einen bestimmten Geldbetrag überwiesen, pauschal und bedingungslos. Eine Halbierung seiner Arbeitszeit würde dann ihren finanziellen Schrecken verlieren. Meyer hätte auf einmal Spielraum für nützliche, aber unbezahlte Arbeit. Für die Pflege seines kranken Vaters, für die Fußballmannschaft seines Sohnes, für den Ölwechsel am Auto. Den hat er früher aus Zeitmangel in der Werkstatt machen lassen, jetzt würde er das selbst erledigen und dadurch Geld sparen. So würde er auf einmal die Art von Leben führen, die Lifestylemagazine neuerdings unter dem Begriff Downshifting, Herunterschalten, anpreisen. In diesen Magazinen werden meist gestresste Manager präsentiert, die auf einmal merken, wie schön es sein kann, einen Nachmittag mit ihren Kindern zu verbringen. Aber warum sollte das nicht auch für Martin Meyer gelten? So ließe sich die Lohnarbeitsgesellschaft in eine Nutzarbeitsgesellschaft verwandeln. Das Schwierige daran ist, dass die Einführung eines Grundeinkommens für alle ziemlich teuer käme. Und wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst, kein neuer Wohlstand entsteht, kein neues Geld in die Staatskassen gelangt, dann hat eine Regierung nur eine Möglichkeit, das Grundeinkommen der Meyers zu finanzieren: Sie muss wohlhabenden Leuten Geld wegnehmen. Das führt zu Spannungen. Kräftiges Wirtschaftswachstum dagegen macht Umverteilung unnötig und verhindert politischen Ärger – im Unterschied zu Umweltschutz, Menschenrechten oder Pressefreiheit. Das ist der Grund, weshalb steigende Unternehmensumsätze das einzige politische Ziel sind, auf das sich weltweit alle Regierungschefs verständigen können. Egal ob Demokraten oder Diktatoren, Sozialisten oder Liberale: Sie alle freuen sich, wenn die Unternehmen ihres Landes mehr produzieren. Angenommen jedoch, eine Regierungschefin, vielleicht eine deutsche, ließe sich von den zu erwartenden Konflikten nicht schrecken. Angenommen, sie wäre imstande, eine Stimmung der innergesellschaftlichen Solidarität zu erzeugen, die nötig ist, um den Wohlstand im Land anders zu verteilen. Angenommen also, sie wäre entschlossen, es von nun an ohne Wachstum zu versuchen: Sie brauchte sich dann gar nicht groß den Kopf zu zerbrechen, wie das alles zu bewerkstelligen sei. Egal ob Arbeitszeitverkürzung oder Grundeinkommen, die theoretischen Konzepte liegen vor, man muss sie nur anwenden. Man braucht allerdings Mut. Es geht, rein theoretisch, also auch ohne Wirtschaftswachstum. Die Meyers brauchen es nicht, und die Arbeitsgesellschaft ließe sich auch verändern. Es wäre die größte politische Anstrengung in der Geschichte der Bundesrepublik, aber es wäre möglich. Das Land könnte schon damit zurechtkommen, wenn Opel nicht von Jahr zu Jahr mehr Autos verkauft. Wenn da nicht dieser andere Mann wäre. Er ist kein Durchschnittsdeutscher wie Martin Meyer, obwohl auch er bei Opel arbeitet. Allerdings in einem eigenen, großen Büro. Der Mann ist der Finanzvorstand bei Opel. Er heißt Marco Molinari, er ist 45 Jahre alt. Aber um ihn als Person geht es nicht. Den Privatmann Molinari würde es womöglich nicht stören, wenn die Wirtschaft nicht mehr wüchse. Er hat in den vergangenen Jahren genug Geld verdient, und etwas weniger Arbeit würde ihm vielleicht sogar ganz guttun. Den Manager Molinari allerdings würde es sehr wohl stören. Zu den wichtigsten Aufgaben eines Finanzvorstands gehört es, die Schulden seines Unternehmens zu verwalten. Nahezu jedes große Unternehmen muss sich Geld leihen, um Geld zu verdienen. Es braucht den Kredit, um Arbeiter zu bezahlen, Maschinen zu betreiben, Autos zu bauen. Hinterher, wenn die Autos verkauft sind, werden die Schulden beglichen. Nur leider kann man sich Geld nicht umsonst leihen. Jeder Finanzvorstand wird versuchen, mit Banken und anderen Geldgebern möglichst günstige Konditionen auszuhandeln, aber das ändert nichts am Kern des Problems: Schulden haben die unangenehme Eigenschaft zu wachsen. Und deshalb wird jedes Unternehmen von seinen Schulden erdrückt. Außer, es wächst ebenfalls. Deshalb also ist Opel in diesen Tagen der Krise von der Insolvenz bedroht, obwohl es immer noch ziemlich viele Autos verkauft, nur eben nicht genug. Und deshalb müssen sich die Ingenieure ständig Gedanken über neue Erfindungen machen. Es ist nicht der Durchschnitts-Meyer, der das Wachstum braucht. Es ist auch nicht die Arbeitsgesellschaft. Es ist der Kapitalismus selbst. Ohne Wachstum würde Opel nicht einfach nur einige Arbeiter entlassen. Es würde schlicht aufhören zu existieren. Genauso wie Daimler und Siemens und Bayer und BASF. Als Nächstes gingen die Banken pleite, die den Unternehmen das Geld geliehen haben. Und dann würde es auch nicht mehr helfen, die Arbeitszeit zu verkürzen, denn dann hätte überhaupt niemand mehr Arbeit. Bei der Frage, ob man ohne Wachstum auskommen kann, geht es also nicht um Gier, Besitzstreben oder Bequemlichkeit. Es geht darum, dass das System ohne Wachstum nicht funktioniert. Man kann sich den Kapitalismus wie ein Flugzeug vorstellen: Solange die Triebwerke ordentlich Schub erzeugen, liegt es stabil in der Luft, und die Passagiere merken gar nicht, dass sie 10.000 Meter von der Erde entfernt sind. Sie können Filme anschauen, Sekt trinken, sich wohlfühlen. Bleibt das Flugzeug jedoch stehen, dann stürzt es ab. Deshalb müssen die Piloten Gas geben, immer weiter Gas geben. Deshalb muss die Wirtschaft wachsen. Auch wenn die Natur schrumpft. In den vergangenen Jahren haben sich die Regierungschefs der Welt einen Begriff angeeignet, der den Eindruck erzeugen soll, dass es den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie gar nicht gibt. Er heißt: »nachhaltiges Wachstum«. Er bedeutet: Wir können alle noch viel reicher werden, ohne das Klima zu erwärmen. Er suggeriert: Es geht um eine neue Art des Wirtschaftens. Das stimmt nicht. Es geht um eine neue Art der Technik. Es geht darum, dieselben Produkte so zu bauen, dass sie weniger Energie verbrauchen. Nachhaltiges Wachstum, das ist ein anderes Wort für: Ein-Liter-Auto. Wenn Opel demnächst solche extrem sparsame Autos bauen würde, wäre das ein großer Fortschritt. Aber damit das Unternehmen seine Kredite zurückzahlen könnte, damit die Wirtschaft weiter wüchse, müsste Opel sehr viele Ein-Liter-Autos bauen. Die Chinesen müssten sie kaufen und die Inder, die Vietnamesen und am Ende auch die Bangladescher. Der Benzinverbrauch weltweit stiege gewaltig, selbst wenn jedes dieser Autos nur einen Liter verbrauchte. Manche Experten wenden ein, dass man den menschlichen Erfindergeist nicht unterschätzen dürfe. Wer hätte zum Beispiel die Entwicklung des Internets vorhergesehen? Wer hätte geahnt, dass es bald möglich sein würde, Musik zu hören, Bücher zu lesen, Briefe zu schreiben, ohne dass man noch Schallplatten pressen, Papier bedrucken oder Postboten anstellen muss? Ist das nicht ein wunderbares Beispiel für eine neue, energiesparende Technologie? Warum also sollte es nicht bald Autos geben, die komplett mit Solarenergie fahren, also gar kein CO2 erzeugen? Vielleicht wird es so kommen, man sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Wahrscheinlich ist es nicht. An Solarautos wird seit Jahrzehnten gearbeitet, nichts deutet darauf hin, dass sie die Benzinautos ersetzen können. Stattdessen verbrennt die Menschheit kräftig weiter Öl, Gas und Kohle. Und das Internet verursacht schon heute mehr CO2-Emissionen als der gesamte weltweite Flugverkehr. Die großen Rechenzentren laufen nicht von allein. Eine einzige Anfrage bei einer großen Suchmaschine verbraucht so viel Energie wie eine Sechzig-Watt-Glühbirne, die eine Stunde lang brennt. Es ist in diesen Tagen der Weltrezession viel die Rede davon, die Hoffnung auf immer weiter steigenden Wohlstand sei gestorben. Sobald die Wirtschaft wieder anspringt, wird diese Hoffnung zurückkehren. Wenn sich jedoch irgendwann die Polkappen in Wasser verwandelt haben, wird niemand mehr glauben, der freie Markt könne uns reich machen und unseren Kindern außerdem noch eine intakte Welt hinterlassen. Vielleicht werden die Bibliothekare dann neue ökonomische Lehrbücher in die Regale stellen. Bücher, deren Autoren sich Gedanken darüber machen, wie sich eine freie Wirtschaftsform gestalten ließe, die ohne Wachstum auskommt. Ein Kapitalismus, der nicht einem Flugzeug gleicht, sondern einem Hubschrauber. Der kann in der Luft stehen bleiben, ohne abzustürzen. Es gibt diese Bücher noch nicht. Niemand weiß, wie eine Post-Wachstumsökonomie aussehen könnte. Genauso wie vor fünfhundert Jahren niemand wusste, wie der Kapitalismus aussehen würde. Er ist einfach entstanden, und erst danach machten sich Leute, die sich Ökonomen nannten, daran, dieses neue System zu beschreiben. Gänzlich verstanden hat es bis heute niemand. Man kann daher nur nach einzelnen Teilen suchen, aus denen vielleicht einmal ein Hubschrauber werden könnte, nach Schrauben, Wellen, Achsen, Rotorblättern sozusagen. Gut möglich, dass der Chiemgauer so ein Einzelteil ist. Der Chiemgauer ist ein Mensch, der im oberbayerischen Chiemgau lebt. So war das jedenfalls bis vor sechs Jahren. Dann kam ein Lehrer aus Rosenheim auf die Idee, das Geld neu zu erfinden. Gemeinsam mit sechs Schülerinnen der 10. Klasse führte er, neben dem Euro, ein zweites Zahlungsmittel ein. Seitdem ist der Chiemgauer auch etwas, mit dem man sich eine Leberkässemmel oder eine Computermaus kaufen kann. Geld eben. Ein Chiemgauer ist einen Euro wert. Aber nur im Chiemgau. Nur bei Leuten und Unternehmen, die ihn als Zahlungsmittel akzeptieren. Das allerdings werden immer mehr. Vor allem seit dem Ausbruch der Finanzkrise steigt die Zahl derer, die im Chiemgau mit Chiemgauern bezahlen. Inzwischen sind es rund 2000 Menschen und 600 Unternehmen in den Landkreisen Traunstein und Rosenheim. Alle zusammen setzten sie 2008 vier Millionen Chiemgauer um. Doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Die Chiemgauer-Scheine sind rot, grün, blau, lila. Sie sehen ein bisschen aus wie Monopoly-Geld. Nur dass genau die gegenteilige Absicht dahintersteckt. Beim Monopoly geht es darum, möglichst viel Geld anzuhäufen. Den Chiemgauer soll man ausgeben. Denn das ist das Besondere an ihm: Wer die Scheine behält, muss alle drei Monate eine Verlängerungsmarke kaufen. Weil eine solche Schwundwährung also permanent an Wert verliert, kann man, wenn man sie verleiht, kaum Zinsen verlangen. Weshalb ein Unternehmen, das sie sich ausleiht, nicht zu permanentem Wachstum gezwungen ist. Es kann glücklich stagnieren. Inzwischen gibt es allein in Deutschland 28 Regionalwährungen, etwa 30 weitere sind in Planung. Es sind kleine Mikrokosmen entstanden, in denen etwas weniger Renditedruck herrscht. Im Vergleich zu den Milliarden von Euro, die sich bundesweit im Umlauf befinden, aber sind sie nicht weiter relevant. Man kann sich schwer vorstellen, dass sich mithilfe solcher Währungen eine ganze Volkswirtschaft organisieren ließe. Einerseits.Andererseits kann sich auch niemand ausmalen, wie die Erde es aushalten soll, wenn in ein paar Jahrzehnten neun Milliarden Menschen auf ihr leben, die alle ein Auto besitzen. Die große Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler interessieren diese Fragen nicht. Lieber rechnen sie in komplizierten Modellen vor, wie sich das Wachstum beschleunigen ließe. Einer, der seit Langem schon anders denkt, ist der Wirtschaftsprofessor Hans-Christoph Binswanger von der Universität St. Gallen, einer Schweizer Elitehochschule. Binswanger wurde im Jahr des vorletzten großen Crashs geboren, 1929, er ist längst emeritiert, hat aber nie aufgehört zu forschen. Er ist der geistige Vater der Ökosteuer und gilt weltweit als einer der bedeutendsten nichtmarxistischen Wachstumskritiker. Als ersten Schritt, den Wachstumszwang zu mildern, schlägt Binswanger vor, Aktiengesellschaften in Stiftungen zu verwandeln. Der Opel-Mutterkonzern General Motors zum Beispiel wäre dann noch immer in privater Hand. Aber er stünde nicht mehr unter einem solchen Expansionsdruck, wie ihn heute Kapitalgeber aus der ganzen Welt auf die Vorstände der Aktiengesellschaften ausüben. Auch Stiftungen müssen vernünftig wirtschaften. Aber sie müssen nicht 25 Prozent Rendite erzielen, wie sie der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, als Ziel vorgab. Wobei man davon ausgehen kann, dass Ackermann den daraus resultierenden Wachstumszwang durchaus verstanden hat. Er hat vor Jahren seine Doktorarbeit bei Binswanger geschrieben, der Titel: Der Einfluß des Geldes auf das reale Wirtschaftsgeschehen. Eine theoretische Analyse. Genau diesen Einfluss des Geldes will Binswanger reduzieren. Den Chiemgauer findet er interessant. Er aber geht weiter: Durch die Regionalwährungen wird das Geld ein wenig privatisiert. Binswanger will es verstaatlichen. Um das zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückgehen. Noch vor Jahrhunderten war Geld gleichbedeutend mit: Münzen. Wer viel Geld besaß, also schwer zu schleppen hatte, gab es einer Bank und bekam dafür einen Zettel, auf dem der entsprechende Wert notiert war. Eine Banknote. Weil die Scheine viel praktischer waren als die schweren Münzen, kursierten die Zettel bald als allgemeine Zahlungsmittel. Das Problem war, dass niemand kontrollieren konnte, wie viele Zettel die Banken unters Volk mischten. Nur so viele, wie sie Goldmünzen besaßen, oder viel mehr? Wie viel waren die Zettel tatsächlich wert? Das unkontrollierte Wachsen der Geldmenge hatte erst ein Ende, als überall auf der Welt staatliche Zentralbanken eingeführt wurden. Die gibt es heute noch. Und noch immer sind sie die Einzigen, die Geld drucken dürfen, mit kleinen Ausnahmen wie den Regionalwährungen. Der Staat also kontrolliert die Menge der Banknoten, die im Umlauf sind. Nur spielen Banknoten heute keine Rolle mehr. Sie machen nur noch sieben Prozent des Geldes aus. Den großen Rest bekommt man nie zu Gesicht, er existiert nur auf EC-Karten, Kontoauszügen und Computermonitoren. Dieses sogenannte Buchgeld aber wächst heute so unkontrolliert wie früher das Zettelgeld. Je mehr Kredite die Banken ausgeben, desto mehr Geld gibt es auf der Welt. Und je mehr Geld es gebe, sagt Binswanger, desto stärker müsse die Wirtschaft wachsen. Oder sie breche zusammen, so wie jetzt. Dazwischen ist nicht viel.Binswanger greift nun auf ein Konzept zurück, das einst von dem Amerikaner Irving Fisher, einem der bedeutendsten Ökonomen des frühen 20. Jahrhunderts, begründet und von dem Deutschen Joseph Huber weiterentwickelt wurde: das Vollgeld. Nach diesem Ansatz erhielte die Zentralbank die Kontrolle über das Buchgeld. Die Banken würden die Girokonten nur noch verwalten, ähnlich wie heute die Wertpapierdepots. Für die Durchschnitts-Meyers würde sich dadurch nichts ändern, die Banken aber könnten nicht mehr nahezu unbgrenzt Kredite vergeben. So könnte die Zentralbank, glaubt Binswanger, das Wirtschaftswachstum verringern, ohne dass das System gleich zusammenbricht. Ein garantiertes Grundeinkommen für alle, ein neues Geldsystem, ein anderes Unternehmensrecht: Eine solche Skizze einer funktionsfähigen, wachstumsfreien Marktwirtschaft wirkt aus heutiger Sicht ziemlich realitätsfern. Vielleicht wird sie es auch bleiben. Gut möglich aber, dass es dieser Skizze ergehen wird wie den Zeichnungen, die Leonardo da Vinci Ende des 15. Jahrhunderts vorlegte. Spiralförmige, an einer langen Stange montierte Scheiben waren darauf zu sehen und ein rundes Brett, das einer Sitzplatte glich. Die Skizze wirkte wie eine seltsame Fantasterei, und lange Zeit blieb sie das auch. Mehr als 400 Jahre lang. Dann, Anfang der 1930er Jahre gelang es zwei Franzosen, so ein komisches Gerät zu bauen, damit abzuheben und in der Luft zu bleiben. Der erste Hubschrauber der Welt.